Ein Artikel von Jutta Czeguhn in der Süddeutschen Zeitung vom 15. September 2017

Behaarlich

Bartstoppeln von Arnulf Rainer oder gezupfte Brauen von Daniel Spoerri – in Regine von Chossys Atelierkeller lagert in Koffern ein sehr spezielles Museum

Der Mann ist allem Anschein nach noch nicht ganz wach. Seine Augen hat er fest zugekniffen auf diesen vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos, die so aussehen, als wären sie von einem missgelaunten Erkennungsdienst-Beamten aufgenommen worden. Bei näherem Studium der seltsamen Schnappschüsse fällt auf, dass die Gesichtsbehaarung des müden Zausels von Bild zu Bild lichter wird. Das Kuriose dabei: Die Spuren der Rasur finden sich noch heute auf einem Brief, dem die Fotos anhaften. Überall Barthaare, als hätte ein schludriger Barbier sie einfach vergessen. Pfffff, man möchte sie wegpusten, doch das wäre dann womöglich ein Fall für die Haftpflichtversicherung.

"Bartschneidezeremonie, 5.8.1982, Chossy-Arnulf Rainer, 8.30-9.30" heißt es zur Erklärung auf einem Zettel. Bei den Fotos und den dunklen Haarborsten handelt es sich um keinen verschlampten Polizei-Akt, sondern um eines der hinreißendsten Stücke in der an Kuriositäten reichen Sammlung von Regine von Chossy. Im Atelier-Keller der Künstlerin im Münchner Westend befindet sich, verstaut in alten Koffern, ein Haarmuseum. 1982 war Chossy eine junge Assistentin an der Akademie der Bildenden Künste und damals – wie heute immer noch – auf der Jagd nach Haarspenden. Arnulf Rainer, der österreichische Übermalungs- und Überraschungskünstler, hatte sich zur Rasur bereit erklärt. Dass Regine von Chossy jedoch in aller Herrgottsfrühe in seinem Hotel auftauchen und sich beim Portier als seine Bartpflege-Fachkraft ausgeben würde, damit hatte er nicht gerechnet.

Meist lagern die Ausstellungsstücke in Koffern im Atelier-Keller im Westend.
Foto: Catherina Hess

Nicht zugegen war Chossy, als ein anderer Künstler-Fürst für ihr Museum die Pinzette ansetzte. Von ihm – Daniel Spoerri – kamen die Haare per Post, adressiert an die "Schussel-Chossy", wie sie der berühmte Schweizer Kunstprofessor damals an der Akademie nannte. "Er fand meine Idee so durchgeknallt, dass er mitmachen wollte", erinnert sich Chossy. Spoerri, dem Abstrusen nicht abgeneigt, sandte ein überschaubares Haarkontingent: akkurat einzeln weggezupft von Arsch, Schwanz, Bauch, Achsel und Braue. Regine von Chossy erzählt das mit saloppem Lachen. Dabei wär's an der Zeit für ein kurzes "Igitt!"

Zu den kuriosesten Stücken der Sammlung gehören Bartstoppeln des Künstlers Arnulf Rainer.
Foto: Roland Jung

Der Ekel, warum nur immer dieser Ekel, wenn es um Haare geht? Regine von Chossy selbst liebt Haare, möchte ihrem Gegenüber spontan durch die Frisur wuscheln. "Eine frühkindliche Prägung", lautet ihre Selbstdiagnose: "Immer wenn ich geschrien habe, hat mir meine Mutter ihren russischen Pelz zur Beruhigung gegeben." Die neurotischen Enthaarungstendenzen in der Gesellschaft sieht sie als Ausdruck von Verklemmtheit. Oder als Reaktion der Sterblichen, die ahnen, dass ihre Haare sie überleben werden, wie jüngst wieder bei der Exhumierung von Salvador Dalí bewiesen. Sein legendärer Zwirbelschnurrer war noch völlig intakt.

Nur selten kann Regine von Chossy ihr Haarmuseum in Vitrinen präsentieren.
Foto: Catherina Hess

Für Regine von Chossy bedeuten Haare Sinnlichkeit und Energie. Das Wort "Energie" fällt häufig an diesem Vormittag in ihrem winzigen Atelier an der Gollierstraße, einem ehemaligen Milchladen, in dem man sich kaum umdrehen kann. Hier entsteht das, was Chossy "energetisches Zeichnen" nennt. Da schwingt und klingt es zuweilen nicht nur auf Papier und Leinwand. Die Künstlerin hat auch eine ausgebildete Sopran-Stimme, die sie in ihren Aktzeichenkursen an der Akademie der Bildenden Künste München und an der Kunstakademie Bad Reichenhall zum Einsatz bringt. Oder beim Vortrag ihrer Haar-Musik. Chossy kramt nach einem Partitur-Blatt, auf das sie kleine Haarknäuels geklebt hat, die nun wie wirre Noten-Nester aussehen. Wie sich das anhört? Chossy räuspert sich kurz. Hähüm ... In etwa so, als würde jemand mit dem Lautstärkeregler spielen, während Cecilia Bartoli eine Arie singt.

Zeit, in ihren Atelier-Keller im Hinterhof hinabzusteigen, um noch mehr Haarproben zu sehen aus dem Museumsbestand. Man müsse keine Angst haben, die Exponate könnten zu lebendig sein. "Für eine Ausstellung in der Kasseler Grimmwelt wurde alles dekontaminiert", sagt sie, wieder mit diesem beiläufigen Lachen. Ihr gesamtes Museum lag sechs Wochen in einem Stickstoffzelt! Trotzdem beginnt nun die Kopfhaut nervös zu jucken beim Anblick der Haar-Schätze, die sonst in Gefrierbeuteln ruhen. Denn dies ist ein schlafendes Museum, das quasi auf gepackten Koffern sitzt, aber nur selten verreisen darf. Auf den Tischen herrscht ein unhierarchisches Durcheinander, bei dem sich dennoch alles aufeinander zu beziehen scheint, von Chossy mit Intuition und Lust am Spiel konzipiert. Ein Universum aus Kitsch, Ironie und Poesie.

So könnte der mit Haar ausgestopfte Melitta-Filter eine Hommage an Meret Oppenheims berühmte Tasse mit dem Gazellen-Pelzbesatz sein. Surreal(istisch) auch der Fahrradsattel mit Haarüberzug, eine Uhr, aus der Haare wachsen, eine haarige Gondel, ein großes Wandvlies, das sich wie Fell anfühlt. Als wären es wertvolle Perlen, streicht Chossy über die Haarkugeln an einer Kette, die ihr eine Goldschmiedin geschenkt hat. Dem Museum wurden etliche schön geflochtene Zöpfe vermacht. Zu jeder Spende kann Chossy eine Geschichte erzählen, denn anonyme Gaben hat sie nicht so gerne. Nicht alle sind schön, manche traurig oder eigenartig. Sie greift ein Marmeladenglas, in dem dünne Haare sitzen. "Die wurden jemandem abgeschnitten, als er mit 15 Läuse hatte, keine Angst, es ist fest verschlossen", sagt Chossy ungerührt. Besonders liebt sie einen wüstensandfarbenen Schnurrbart, das Geschenk eines Kollegen. Oder die vielen Grußkärtchen mit blonden Strähnen, sie stammen von Studenten aus dem norwegischen Bergen, wo sie eine Gastprofessur hatte. Chossy ist überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Haarstruktur und dem Charakter eines Menschen gibt. Da müsste mal jemand forschen.

Arnulf Rainer und Daniel Spoerri sind mittlerweile sehr alte Männer, ihre Haare sind längst schlohweiß. Die Spenden dieser Ikonen könnten heute auf dem Kunstmarkt viel Geld wert sein. Regine von Chossy will von einem Verkauf nichts wissen. Doch wie gerne würde sie ihr kleines Haarmuseum wandern lassen, dass es unter Leute kommt. Oder aber einen guten Ort dafür finden.

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